Liebe Muslime, Mitglieder des islamischen Zentralrats der Schweiz:
Ich heisse Kacem und ich nehme an, dass euch dieser Name bekannt ist: Kacem war ein Sohn des Propheten Mohammed, der jung verstarb. Dieser Name könnte euch dazu verleiten, anzunehmen, ich sei Muslim, was nicht völlig falsch ist, weil ich viele Jahre lang tatsächlich ein Muslim war und in einer muslimischen Familie und Gesellschaft grossgezogen wurde. Ich erhielt eine religiöse Erziehung und lernte viele Stellen des Korans auswendig. Ich befasste mich mit einigen Islamischen Geschichtsbüchern und feierte viele islamische Feiertage mit meiner Familie und meinen Freunden. Auch meine jetzige intellektuelle Hingabe und meine Offenheit gegenüber der deutschen Literatur, der Philosophie und den Geisteswissenschaften habe ich vor allem diesen zu verdanken.
Es ist noch nicht lange her, da lebte ich in einem Islamischen Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung Muslime sind, eure Religionsbrüder. Sie unterstützen euch und wünschen euch viel Glück und Erfolg bei der Bewältigung der vielen Herausforderungen, denen ihr in der Schweiz gegenübersteht, sei es von Seite der Behörden oder des Schweizer Volks, bei der Erreichung eurer Forderungen nach Anwendung der Scharia, dem Bau von Moscheen und dem Schlagen eurer Frauen. Jene Mehrheit respektierte unglücklicherweise nicht meine eigenen Rechte als Mitglied einer Minderheit und ihr Mangel an Respekt ging so weit, dass sie meinem Leben ein gewaltsames Ende setzen wollten, Steine auf mich warfen, mich daran hinderten, das Haus zu verlassen, mich von der Schule verbannten, mich in den Medien verleumdeten, mich vor Gericht zerrten und viele andere Dinge, die ich lieber für mich behalten möchte aus Rücksicht auf den Leser.
Ich hätte mir gewünscht, diese Leute hätten die Diskussion und das Gespräch mit mir gesucht, auch wenn es nur in viel geringerem Umfang gewesen wäre als es die Schweizer Regierung zu euch sucht. Dies, um ihnen gegenüber meine Positionen zu begründen und ihnen zu erklären, dass ich nicht speziell gegen den Islam und gegen die Muslime stehe, sondern dass ich einfach gegen Extremismus, Fanatismus und Hass bin, ungeachtet ihrer Herkunft oder der Ideologie, die dieser zugrundeliegt. Unglücklicherweise gaben sie mir weder diese Gelegenheit, noch respektieren sie mein Recht zu leben und anders zu sein. Weder meine marokkanische Nationalität, die ich von meinen Vorfahren geerbt habe, noch andere Gemeinsamkeiten im Sinne von Geschichte und Kultur, reichten, sie daran zu hindern, mich zum Tode zu verurteilen und mich in aller Weise zurückzuweisen, ganz einfach weil ich meine Gedanken zum Islam in Beiträgen auf verschiedensten Webseiten ausdrückte. Weder hatte ich mich je gegen jemanden gestellt, noch rief ich auf zur Steinigung, der Amputation von Gliedern oder zwang Frauen, sich auf spezielle Weise zu kleiden. Ich rief nicht auf zum Mord an jenen, die nicht mit mir übereinstimmten und auch nicht zur Todesstrafe für meine Kontrahenten, die meine intellektuellen und politischen Positionen bekämpften. Ich rief nicht auf zur Zensur von Kunst und Literatur, nicht zur Verbrennung von Büchern und veröffentlichte auch nicht exotische Fatwas. Das einzige Verbrechen, das ich beginn, war, mich frei auszudrücken. Ich versuchte, frei zu sein in einer unfreien Gesellschaft. Ich kämpfte für die Menschenrechte und entschied mich dafür, kein Muslim zu sein. Ich entschied mich dafür, ein Mensch frei von den Fesseln der Religion zu sein und dafür, andere Menschen gemäss eines komplexen Gesellschaftsvertags zu lieben, ungeachtet ihrer Religion, Hautfarbe, ihres Geschlechts oder jeder anderen Eigenschaft. Zu jener Zeit wurden alle Türen vor meiner Nase zugeschlage und ich starb viele Male an einem fürchterlichen Albtraum, den Albtraum eines Lebens im Islam, bis ich Zuflucht und Hoffnung auf ein neues Leben frei von Terrorismus fand an einem geographischen Ort, der uns gemeinsam ist: Die Schweiz. Dennoch, mit jedem Video, das ich auf Youtube veröffentliche und das von zehntausenden Menschen gesehen wird und mit jedem Artikel, den ich auf meinem Blog oder auf irgendeine Online-Zeitung veröffentliche, kommentieren eure Glaubensbrüder: „Freu dich nicht zu früh, uns Muslime gibt es überall.“ Man könnte dies als Drohung auffassen, aber ich nehme es nicht Ernst, weil ich jetzt in einem demokratischen Land wohne, wo das Gesetz für alle Menschen gilt, selbst für die Nicht-Schweizer. Und sollte mich doch jemand angreifen, wird die Polizei meine Rechte schützen, ungleich der Polizei in islamischen Ländern, wo man den Angreifer mit Ehre und Umarmungen überschüttet.
Ich habe erfahren, dass Ihr den Bau einer Moschee in Bern plant und dass Saudi-Arabien und andere Partien dieses Vorhaben grosszügig unterstützt und da habe ich mich gefragt: „Braucht die Welt derzeit wirklich mehr Moscheen?“. Wisst ihr nicht, dass die islamische Welt an Armut und Hunger leidet? Wisst ihr nicht, dass es der Traum vieler Muslimischer Jugendlicher ist, auf todbringenden Booten nach Europa zu immigrieren? Wisst ihr nicht, dass ihr mit diesen riesigen Geldmitteln Schulen in euren Herkunftsländern bauen und viele Dörfer aus ihrer Isolation und Marginalisierung befreien könnt? Wisst ihr nicht, dass eure schwangeren Frauen, die oft sterben, bevor sie in einem Spital zur Entbindung ankommen, Spitäler brauchen? Und was ist mit Saudi Arabien? Schämen sie sich nicht, diese Golfprinzen mit ihren Petrodollars, wenn sie für Sextourismus nach Marokko pilgern, ihre Taschen mit Tonnen von Büchern gefüllt und sich darunter kein einziges wissenschaftliches Magazin oder irgendein Buch von intellektuellem Wert befindet, stattdessen nur Kopien des Korans und religiöser Bücher? All dies, während westliche Länder Bildungsprojekte unterstützen, Wohltätigkeitsorganisation gründen und Schulen und Spitäler bauen.
Ich wollte diesen Brief ursprünglich schreiben, weil ich euch unterstützte, als ich auf eurer Webseite und in euren Verlautbarungen gegenüber der Presse las, dass ihr eine unterdrückte Minderheit seid, dass ihr von der Rechten verfolgt und durch die Medien diffamiert würdet. Ich unterstützte euch, weil ich auch eine Minderheit darstellte in meinem Land, auch wenn die Umstände meiner Verfolgung viel schlimmer waren als jene, von der ihr, so wollt ihr glauben machen, durch die Schweizer betroffen wäret. Ich habe nie von eine Schweizer Partei gehört, die zu eurer Ermordung aufgerufen hätte, zum Verbot eurer Versammlungen und zur Streichung von sozialer Unterstützung einfach deshalb, weil ihr nicht dieselben Überzeugungen und Träume teilt.
Erlaubt einem einfachen Manne diese unschuldigen Fragen zu stellen. Ich gebe nicht vor, die Wahrheit zu kennen, aber ich verteidige jenen Teil von ihr, der mir mein Glücklichsein in diesem Leben garantiert: Unterstützt ihr mich? Unterstützt ihr Minderheitenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingefordert werden, insbesondere in Artikel 18 betreffend der Glaubens- und Gewissensfreiheit? Habt ihr den Mut, die Lehren eurer eigenen Religion zu konfrontieren, die meinen Tod als Glaubensabfälliger des Islam fordern und seid ihr bereit, diese Lehren auf dem Müll zu entsorgen? Diese Fragen mögen für euch keine Relevanz haben, aber sie sind in der Tat relevant und dringlich für jeden, der dem weltweiten Zeitgeschehen folgt.
Ihr könnt versuchen, die anderen glauben machen, eine simple religiöse Minderheit zu sein ohne jedes Interesse an Politik, abgesehen vom Schutz des Rechts, eure Religion frei ausüben zu dürfen; aber ich weiss, dass der Islam nicht einfach eine Glaubenslehre ist, sondern auch eine Lebensart und sich nicht auf die Gestaltung der Beziehung zwischen Gott und den Menschen beschränkt, sondern weiter reicht, die Art der Menschen zu leben und zu denken gestaltet, ihre Beziehung unter sich und zu anderen.
Euer Koran ist voll mit religiösen Lehren, die als grundlegende Regeln betrachtet werden und denen die Muslime gehorchen müssen. Eure Islamischen Religionsbrüder in Ägypten, Libyen und Tunesien posaunten noch bis vor kurzem beschwichtigende Nachrichten in die Welt hinaus, wonach sie friedlich seien, das Gesetz und die Grundsätze eine säkularen Staates akzeptieren und von der Anwendung der Scharia absehen würden. Aber sobald sie ihren Weg zur Macht im Nachgang der Wahlen gesichert hatten, änderten sie ihre Reden und begannen, die Scharia zu fordern im guten Wissen, dass diese die Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten verletzt, so die Forderung nach der Todesstrafe für ‚Ungläubige‘ und Glaubesabfällige des Islams in Tunesien, die Belästigung säkularer Lehrer und Intellektueller und der Versuch, sie an der Verbreitung ihrer Ideen zu hindern. Eure Brüder waren für unsere Revolution wie eine Seuche und eine Verdammnis, die die Seele jener jungen Leute befiel, die ihr Leben für die Freiheit und die Demokratie hingaben.
Ich möchte weder Zeuge davon werden, wie die Schweiz von ihrem demokratischen Weg abweicht und all jene Menschenrechte, die sie sich während Jahrhunderten des Kampfes erworben hat, einfach aufgibt, noch möchte ich als Rassist oder Ausländerfeind betitelt werden. Auch ich bin ein Ausländer in diesem Land, sowohl ethnisch als auch kulturell, aber hier fühle ich meinen Wert als freies menschliches Wesen respektiert, ein Wert, der durch unsere Völker zerstört wurde mit ihren Religionen, politischen Parteien und Diktatoren.
Zum Schluss liebe Mitglieder des Islamischen Zentralrats der Schweiz, möchte ich sagen, dass ich euch als Mitglieder der menschlichen Rasse liebe und mich freuen würde, wenn ihr eure Gedanken eingehender und systematischer prüfen könntet. Ich bitte euch basierend auf gegenseitiger Anerkennung und Achtung meine Freundschaft an. Lebt eure Leben und lasst andere die ihrigen leben, so wie sie es möchten.
Autor: Kacem el Ghazzali
Übersetzung: Daniel Rickenbacher